Das Schneidershaus, dem Weinberg gegenüber auf der anderen Straßenseite, ist früher immer ein Wirtshaus gewesen. Im Protokollbuch der reformierten Gemeinde wird es schon 1703[*] als solches erwähnt. Verbunden mit ihm war eine kleine Landwirtschaft. Die zu ihm gehörende Scheune am Düsselufer brannte kurz nach 1900 ab. Das alte Haus wurde 1956 abgerissen, weniger wegen seiner Baufälligkeit. Es stand zu dicht an der Straße und wurde mehr und mehr ein Verkehrshindernis. An seiner Stelle und dort, wo das Haus Höhländer stand, wurden nun die beiden Häuser gebaut, die sich durch ihr schönes Fachwerk so gut dem Dorfbild anpassen […]. Als kurz nach 1900 die Kalkindustrie in Gruiten ihrem Betrieb eröffnete, da fanden viele italienische Arbeiter im Schneidershaus ihr Logis.[*]
In diesem Zitat wird völlig zu recht herausgestellt, dass das Schneidershaus (im 20. Jahrhundert) zu einem Verkehrshindernis geworden war, besonders nach dem Ausbau der Straße nach Mettmann (Ende der 1920er Jahre) für die Trolleybuslinie und für den gesamten Verkehr durchs Dorf (ein Dorf-Umgehungsstraße gab es ja noch nicht). Aber an dem Engpass ist das Haus selbst nicht „schuld“, denn es stand dort schon, bevor es überhaupt eine ausgebaute Straße nach Mettmann gab – und es stand auch schon dort, bevor das Haus Weinberg (in der Titelabbildung links) um 1810 erbaut wurde, durch dessen Lage der Engpass (Abb. unten) erst entstanden ist.










Lothar Weller, 12.6.2020 – Titelabbildung (vor 1930, weil noch keine Trolleybus-Oberleitung vorhanden ist): Gruitener Archive, Ausschnitt einer alten Ansichtskarte.
[*] Fritz Breidbach, Gruiten – Die Geschichte eines Dorfes an der Düssel, Gruiten 1970, S. 65. Bei der Jahreszahl „1703“ handelt es sich wahrscheinlich um einen Druckfehler, denn in den Protokollen des Consistoriums der reformierten Gemeinde ist im Jahr 1703 kein Eintrag vorhanden, der mit einem Wirtshaus im Zusammenhang steht. Die Bezeichnung „Schneidershaus“ kommt in den Protokollen erst am 10.2.1730 vor: uber Jungsthin Vorgefallenes streitwesen am so genandten schneidershauß, unter ettlichen männeren und gesellen, ist die nöhtige nachfrage geschehen. Aber auch hier ist der Zusammenhang mit einem Wirtshaus nur indirekt durch den beschriebenen Vorfall (Streit unter Männern) zu erkennen. Im Protokoll der Sitzung vom 8.9.1731 wird der Zusammenhang allerdings deutlicher: […] Adolf Heinhauß am schneidershauß […] nach gehaltenem gottesdienst [… hat] in sein hauß Spielleute biß in die nacht aufgehalten. Das Protokoll vom 8.9.1744 schafft dann Klarheit: Vorm Consistorio erschienen und censuriret [es folgen zwei Frauennamen], dieweil sie d[en] 23. Aug. nachmittags unterm Gottesdienst in der herberge am schneidershauß gewesen bey wilden gesellen.
13. Juni 2020 at 13:13
Lieber Heimatfreund,
da haben Sie ja wieder einen Volltreffer gelandet! Das „Freilichtmuseum Gruiten-Dorf“ scheint wohl unerschöpfliche Geschichten zu liefern.
Wieder ein wichtiges Mosaiksteinchen zur Gruitener Geschichte!
Das hier im Zentrum des Artikels stehende Haus stand sicherlich dem aufkommenden Verkehr im Wege, der bauliche Zustand war aber schon lange nicht mehr zeitgemäß. Die Wohnungsnot war groß, als die Gemeinde Gruiten sich zum Abbruch und Neubau entschloss. Die Baupläne entwarf Hans Pabst; der damals beim örtlichen Bauamt tätig war und später nach Kürten (Rhein.-Berg.-Kreis) als Leiter des dortigen Bauamtes wechselte. Er stammte wie sein Vater aus Haan, dessen Handschrift das Rathaus ihrer gemeinsamen Heimatstadt trägt. Ich selbst bin Zeitzeuge des Geschehens rund um das Haus Dorf 95, denn ich absolvierte damals meine Lehrzeit bei der Amtsverwaltung Gruiten. Mein Befund: Das Haus Dorf 95 fügt sich in das historische Ortsbild harmonisch ein!
Seien Sie gegrüßt von
Herbert Bander