Von einem Buch zu sprechen, ist – was die Maße anbelangt – eindeutig übertrieben, denn selbst aufgeschlagen ist es nur wenig größer als eine Postkarte. Aber es hat es in sich, dieses Kirchen-Büchlein, das als verschollen galt und 2011 wiederentdeckt wurde. Es enthält nämlich nicht nur die frühesten Aufzeichnungen der katholischen St.-Nikolaus-Gemeinde über Taufen, Heiraten und Beerdigungen von 1658 bis 1723 in Gruiten, sondern auch die „Geburtsurkunde“ der reformierten Gemeinde.
Die „Geburtsurkunde“ der reformierten Gemeinde steht im katholischen Kirchenbuch
Der damalige katholische Pastor hatte offenbar das Gefühl, dass das, was sich 1674 auf konfessionellem Gebiet in Gruiten tat, unbedingt für die Nachwelt aufgezeichnet werden müsse. Also notierte er 1675 an einer freien Stelle des Kirchenbüchleins vor den schon enthaltenen Taufeinträgen, dass die Abtrünnigen der Pfarrgemeinde seit einem Jahr öffentlichen Gottesdienst abhielten und nun sogar einen eigenen Prediger namens Thomas Kolhagen angestellt hätten (der lateinischeText unten links in der Abb. oben). Der Text war seit etwa 90 Jahren in der reformierten Gemeinde bekannt, weil der damalige katholische Pfarrer seinem Amtskollegen eine Abschrift gegeben und dieser sie in einer Schrift über die Geschichte der reformierten Gemeinde veröffentlicht hatte. Das Kirchen-Büchlein mit dem Original hat er aber wohl nie zu Gesicht bekommen, denn sonst hätte er bemerkt, dass der Text der Abschrift nicht vollständig war. Vielleicht wäre der komplette Text nie bekannt geworden, hätte nicht Günter Schruck, ein gebürtiger Gruitener aus alter Gruitener Familie, 2002 für die Ahnenforschung eine Bearbeitung dieses Kirchenbuches[1] herausgegeben und darin auch den Text der „Geburtsurkunde“ der reformierten Gemeinde zitiert. Günter Schruck kannte das Original nicht, wusste auch nicht, wo es sich befand, sondern arbeitete nach einer Kopie, die im Personenstandsarchiv Brühl aufbewahrt wird und 1986 angefertigt wurde.
Auf die Spur des Originals führte erst ein Foto aus dem Gruitener Archiv Breidbach, auf dem ein aufgeschlagenes Buch abgebildet ist. Die Vergrößerung des Fotos machte nämlich den Eintrag von 1675 lesbar – und weil es ein Farbfoto war, musste es noch relativ jung sein, sodass das Kirchenbuch in Gruiten noch vorhanden gewesen sein konnte, als die Brühler Kopie entstand. Aber ob und ggf. wo, das wusste niemand zu sagen. Eine erste Suche im Archiv der katholischen Gemeinde verlief erfolglos, weil ich nach einem Kirchenbuch der üblichen Größe, nach einem Folianten gesucht hatte, denn auf dem Foto war die wahre „Größe“ nicht erkennbar. Der Gedanke, das gesuchte Kirchenbuch könnte ein unscheinbares, winziges Büchlein ohne Beschriftung auf dem Deckel sein, kam mir gar nicht in den Sinn. Erst bei einer nochmaligen Suche gut ein Jahr später, bei der ich jedes Stück intensiv in Augenschein nahm, erkannte ich das historische Kleinod.
Zwei adelige Kinder wurden in Gruiten getauft. Die Liste der Paten und Patinnen liest sich wie das Who’s who des regionalen Adels.
Die Reformation hatte dazu geführt, dass es im 17. Jahrhundert um Gruiten herum fast keine katholische Gemeinde mehr gab. In Gruiten war sie – obwohl auch die Gruitener fast vollzählig evangelisch geworden waren – durch die Bestimmungen des Westfälischen Friedens von 1648 erhalten geblieben. So wurde die katholische Kirche in Gruiten zum Sammelpunkt für die wenigen Katholiken der Umgebung. Das Kirchenbüchlein von 1658 enthält deshalb eine große Anzahl von „Fremd-Einträgen“, darunter auch die Taufeinträge von zwei Mädchen des Adelshauses Schöller aus den Jahren 1667 und 1670, deren lange Liste der Paten und Patinnen sich wie das Who’s who des regionalen Adels liest (Beispiel s. Abb. oben). Auch Haan ist im Gruitener Kirchenbuch prominent vertreten. Johann Christian Wiedenfeld, der erste bedeutende Katholik, der sich nach der Reformation in Haan niederließ und ab 1678 für mehrere Jahrzehnte Schultheiß von Haan und Hilden war[2], ließ insgesamt 14 Kinder aus zwei Ehen in Gruiten taufen.
Lothar Weller / 2011/2017 (Text und Abbildungen)
[1] Günter Schruck, Kirchenbuch der katholischen Pfarrgemeinde St. Nikolaus zu Gruiten 1658 bis 1723, Erstausgabe 2002, Neufassung 2008 auf CD-Rom. [Anmerkung: Nach dem Tod von Günter Schruck ist sein historischer Nachlass mit Gruitener Bezug – seinem Wunsch entsprechend – mir übergeben worden und inzwischen Teil der Gruitener Archive. Seine Bearbeitung des ältesten katholischen Kirchenbuchs wird hier mit ausdrücklicher Zustimmung seines Sohnes als PDF-Datei veröffentlicht.]
[2] Manfred Baldus, Haan – Werden und Wachsen einer Stadt, Haan 1959, S. 135.
[Link: WZ, 2.10.2011]
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