Die Antworten auf diese Fragen sind wichtig, weil die Theorie vom Bau der Kirche durch fremde („welsche“) Kaufleute1 auch darauf fußt, dass sie bereits im 11. und nicht erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstanden ist. Die Datierung hängt wesentlich davon ab, wie die Fachleute die Architektur beschreiben und bewerten, wobei es offenbar für die Zeitbestimmung besonders auf die Art des Gewölbes in der Kirche ankommt.

Die frühesten bekannten Informationen über die Kirche stammen aus 1874, als Gerhard August Fischer (der spätere Erbauer der neuen kath. Kirche Gruitens, u.a. auch bekannt als Wiedererbauer von Schloss Burg) sich intensiv mit der Frage beschäftigte, wie die sehr kleine romanische Kirche Gruitens vergrößert werden könne (Pläne für drei verschiedene Vergrößerungsvarianten sind erhalten). Fischer hat 1874 geschrieben (Abb. unten): „Die alte katholische Kirche in Gruiten ist ein romanisches Bauwerk, welches […] im 12ten Jahrhundert erbaut sein mag, und äußerst geringe Dimensionen hat, während der Thurm ziemlich groß und stattlich ist.“1

G.A. Fischer, November 1874 (Ausschnitt). Repro aus Archiv St. Nikolaus: von mir.

Fischers Zeichnungen zeigen, dass die Turmhalle, das Kirchenschiff (Langhaus) und der Chor Gewölbe hatten (Abb. unten als Beispiel). In der Turmhalle ist es noch vorhanden, und auf der Turm-Ostseite ist der Ansatz des ehemaligen Gewölbes des Kirchenschiffs noch zu erkennen.

Zeichnung: G.A. Fischer, Ausschnitt eines Plans von 1874 im Archiv St. Nikolaus. Repro mit Textergänzungen: von mir.

20 Jahre später enthält das von Paul Clemen herausgegebene große Werk Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz2 eine ähnliche Zeichnung, die sich aber besonders dadurch unterscheidet, dass für die Turmhalle kein Gewölbe eingezeichnet ist, obwohl dies — anders, als die anderen Gewölbe — auch heute noch vorhanden ist (Abb. unten)!3 Ein Fehler von Fischer, der Clemen u.a. für den Gruiten-Abschnitt im Buch zugearbeitet hat?

Grundriss der romanischen Kirche Gruitens im Werk von Clemen2. Zeichnung: wahrscheinlich G.A. Fischer.

Zur Kirche heißt es in dem Werk: „In der z[weiten] H[älfte] des 11. Jh. entstand eine Kirche [alte kath. Pfarrkirche (tit. s. Nicolai)], die noch im liber valoris um 1300 als ‚capella‘ aufgeführt wird.“ […] Die alte Kirche […] stellt einen der frühesten romanischen Bauten des bergischen Landes dar. Die Grundrissausbildung ist von besonderem Interesse durch die starke Betonung des Turmes, der die volle Breite des einschiffigen Langhauses besitzt […]“ (S. 65, Hervorhebungen im Text von mir). „Im Inneren ist die Turmhalle mit einem Gratgewölbe überdeckt, dessen scharfprofilierte Schildbögen auf Eckkonsolen aufsitzen“ (S. 66, Hervorhebung im Text von mir).

Neuzeichnung nach Clemen/Fischer und einer Neuvermessung des Turms: Andreas Sassen, 2015.4

Ganz anders liest sich die Einschätzung von Clemen aus dem Jahre 1898: „Die seit dem Jahre 1879 verlassene alte katholische Pfarrkirche in Gruiten gehörte einer grösseren Gruppe von romanischen Bauten an, die über das ganze bergische Land verstreut sind. Sie stellte den ältesten Typus dieser Gruppe dar — einschiffige Anlage mit dem in einer Flucht mit dem Turme liegenden Langhause, — doch war die Bedeutung des Bauwerkes als eines kunsthistorischen Dokuments gegenüber den in unmittelbarer Nähe liegenden ausgedehnteren romanischen Kirchen der gleichen Gattung beschränkt.5 Kein Wort mehr davon, dass er vier Jahre zuvor die Erbauung der Kirche auf die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts datiert (woraus spätere Autoren schlicht „1075“ gemacht haben) und ihren mächtigen Turm erwähnt hat, wodurch sie schon aus der „grösseren Gruppe von romanischen Bauten“ des Bergischen Landes „herausgehoben“ wäre. Denn für die Kirchen des Bergischen Landes gilt allgemein: „Die ersten Kirchen auf diesem Gebiet [dem Bergischen] dürften Holzkirchen gewesen sein, die im 10./11. Jahrhundert durch einfache Saalkirchen [ohne Turm!] ersetzt wurden. Das 12. Jahrhundert sah dann eine erste große Baubewegung im Bergischen Land, von der heute noch zahlreiche romanische Kleinbasiliken Zeugnis ablegen.“6 Sollte das um die Wende vom 19. zum 20. Jh. noch nicht bekannt gewesen sein? Wenn doch, dann hätte Clemen als die Autorität der Zeit in Sachen rheinischer Kirchen und anderer Denkmäler das gewusst, und als Landeskonservator hätte er der Gruitener Kirche einen architekturhistorischen Rang zuerkennen müssen. Aber in seinem Bericht von 1898 über den Abriss der Gruitener Kirche kommt dazu nichts zum Ausdruck. Er erwähnt zwar erneut, dass die Kirche ein Gratgewölbe hatte, aber ohne den Zeitbezug „11. Jahrhundert“, den er in seinem Bericht von 1898 nicht wiederholt, ist das ja nichts Besonderes, weil es von den (Kreuz-)Gratgewölben heißt, dass sie erst „zu Beginn des 12. Jahrhunderts wieder in der romanischen Architektur aufgenommen“ worden seien.7

Blick in die Turmhalle mit dem (Kreuz-)Gratgewölbe, von dem hier der westliche Teil über dem Fenster zu sehen ist. Foto (2015): von mir.

Im 20. Jahrhundert wird von anderen Autoren der Erbauungszeitpunkt der Kirche nicht mehr dem 11., sondern jetzt dem 12. Jahrhundert zugeordnet. Im „Dehio“ von 1967 heißt es: „Gruiten. Alte kath. Pfarrkirche. Von der auf ummauertem Friedhof gelegenen, um 1180 errichtete Nikolauskirche […] steht heut nur noch der dreigeschossige Westturm […].“8 (Hervorhebung im Text von mir.) Und Kubach/Verbeek schreiben 1976: „Gruiten, Alte (kath.) Pfarrkirche St. Nikolaus. […] Der Turm […] vom Ende des 12. Jhs. […]. Nach Aufnahme (im D.-A. Bonn) war es [das Langhaus] einschiffig gewölbt mit Chorhaus und Apsis, wohl ungefähr gleichzeitig mit dem Turm, 2. Hälfte des 12. Jhs., vielleicht mit älterem Kern im Schiff. […] Im Inneren Kreuzgratgewölbe.“9 (Hervorhebungen im Text von mir.)

Hinzu kommt, dass die Verwendung von Trachyt, mit dem die Portale der Gruitener Kirche eingefasst wurden, für das 11. Jahrhundert unwahrscheinlich ist, weil „erst im 12. Jahrhundert sich wieder eindeutige Hinweise der Verwendung von Drachenfelstrachyt finden [lassen]“, z.B. bei der Barbarossapfalz in Kaiserswerth, „mit deren Bau 1184 begonnen wurde“.10

Fazit: Die Erbauungszeit für die Kirche wird nur von Clemen 1894 dem 11. Jahrhundert zugeordnet, aber von ihm 1898 nicht wiederholt (Druckfehler im Werk von 1894?). Im 20. Jahrhundert ist von Fachleuten — soweit ich sehe — nur noch das 12. Jahrhundert als Erbauungszeit angegeben worden.

Lothar Weller, Stand 16.3.2023


1 Archiv St. Nikolaus, Erläuterungsbericht zum Kirchenneubau von G.A. Fischer vom November 1874.

2 Paul Clemen (Hg.), Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, 3. Band, Düsseldorf 1894, S. 65.

3 Der Text enthält auch einen kleinen, aber sehr merkwürdigen Fehler (S. 64): Abgerissen wurde die alte Kirche bis auf den Turm nicht 1894, wie es hier heißt, sondern erst 1895, also nach dem Druck des Werkes von Clemen (Anm. 2). Dieses Jahr geht nicht nur aus Unterlagen im Archiv St. Nikolaus hervor, auch Clemen selbst hat in einem späteren Text von 1898 das Jahr 1895 angegeben (s. Anm. 5). Wie kommt ein solcher Fehler zustande? Ein Druckfehler kann es nicht sein, denn die richtige Jahreszahl (1895) wäre in einem Werk, das 1894 erschienen ist, auch nicht sinnvoll gewesen. (Der Fehler ist übrigens — soweit ich sehe — von späteren Autoren übernommen worden, ohne die ausführlicheren Informationen von 1898 und die richtige Jahreszahl zu berücksichtigen.) Auch ein Zeitungsartikel vom 22.11.1894 stützt das Abrissjahr „1895“:

Repro aus Zeitungsarchiv NRW/zeitpunkt.nrw.

4 Andreas & Claudia Sassen, Die Nikolauskirche zu Gruiten, Beiträge zur Heimatgeschichte, Bd. 19, Solingen 2017, Abb. S. 58.

5 Paul Clemen, Gruiten, Wiederherstellung des Turmes der alten katholischen Pfarrkirche, in: Berichte über die Thätigkeit der Provinzialkommission für die Denkmalpflege in der Rheinprovinz und der Provinzialmuseen zu Bonn und Trier, Bonn 1898, S. 26 ff.

6 Verena Kessel, Weltgericht und Seelenwaage, Große Kunst in kleinen Kirchen, Die Bunten Kirchen im Bergischen Land, Bergisch-Gladbach 2010, S. 10 (Bensberger Edition 2, Schriftenreihe der Thomas-Morus-Akademie Bensberg).

7 Nicolas Attias, Kreuzgratgewölbe, mit Bezug auf: Matthias Untermann, Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Stuttgart 2009, S. 336 (veröffentlicht auf http://urbs-mediaevalis.de/pages/studienportal/bauteiltypologie/bauteile-k/kreuzgratgewoelbe.php, Abruf 16.3.2023).

8 Georg Dehio, bearb. v. Ruth Schmitz-Ehmke, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, NRW, 1. Bd.: Rheinland, Darmstadt 1967, S. 215.

9 Hans Erich Kubach & Albert Verbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas, Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, Bd. 1 A-K, Berlin 1974, S. 337. (Mit Bezugnahme auf: Kd. Rh. III 2 (Kr. Mettmann, 1894), S. 64 ff., Fig. 28 Bauaufnahme (zum Artikel von Kubach/Verbeek abgebildet); Bdm. S. 189; Dehio, Handb. Rheinl. (1967), S. 215; Hb. Erzb. Köln I, S. 280; P. Clemen: Ber. Prov.-Komm. 3, 1898, S. 26; Jahrb. Rhein. Dpfl. 21, 1957, S. 217.) Anmerkung: Aber auch dieser Artikel ist nicht fehlerfrei. Der Abriss des Gruitener Kirchenschiffs ist z.B. — trotz Bezugnahme auf Clemen 1898, der die richtige Jahreszahl nennt! — mit 1894 und die Erbauung der neuen kath. Kirche mit 1874 (richtig 1877-79) falsch angegeben.

10 Anton Rose / Manfred Schürmann, Die Herkunft der Baustoffe der Wasserburg Haus Unterbach, in: Niederbergische Geschichte, Bd. 3, Erkrath 2000, S. 12, mit Bezug auf: Heinrich Leven, Beiträge zur Geschichte der Steinbruchtätigkeit und Steinmetzbetriebe im Siebengebirge, Bonner Geschichtsblätter Bd. 8, S. 135-165, Bonn 1954. (Ob es dazu neuere Erkenntnisse als die von 1954 gibt, versuche ich gerade über https://www.rheindrache.de/steinbrueche-siebengebirge/ herauszubekommen.)

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