Solange es in Gruiten nur eine Kirche gab, läuteten nur die Glocken von ihrem Turm. Mindestens 200 Jahre lang, also über etliche Generationen hin war das so. Dann wurde 1719-21 weit unterhalb der alten St.-Nikolaus-Kirche eine zweite gebaut, die zum Herzstück des sich allmählich entwickelnden Dorfs wurde. Und jeder konnte sehen, dass diese neue Kirche der reformierten Gemeinde auch einen kleinen Glockenturm hatte. Aber der blieb stumm — nicht nur bei der Einweihung der Kirche, auch danach noch an Weihnachten, Neujahr, Ostern, Pfingsten und sonstigen Feiertagen. Für eine Glocke hatte das Geld, das für den Bau der Kirche gesammelt worden war, nicht mehr gereicht.
Aber ein stummer Glockenturm – das konnte und sollte kein Dauerzustand sein. Schließlich wollte die Gemeinde, nachdem sie es geschafft hatte, eine eigene Kirche zu bauen, nun auch endlich unabhängig werden von den Glocken der katholischen Kirche, denn deren Geläut wurde ja mangels eigener Glocken weiterhin gebraucht, wenn ein Reformierter beerdigt wurde. Beerdigen ohne Glockengeläut, das ging nicht. Und tatsächlich dauerte es nach Einweihung der Kirche nur 14 Monate, bis die Gemeinde zum ersten Mal von eigenen Glocken zum Gottesdienst gerufen wurde. Spenden aus der Gemeinde, aber – wie schon beim Bau der Kirche – auch in großem Umfang von außerhalb der Gemeinde hatten es möglich gemacht, nicht nur eine, sondern sogar zwei Glocken anzuschaffen. Das war vor genau 300 Jahren. Pastor vom Bergh notierte 1722 im Protokollbuch: „3. Zur nachricht dienet hiemit, daß unsere beide glocken d[en] 2. decemb[er] von Rindorff hieher gebracht sind, und d[en] 13. decemb[er] mit denselben am ersten der Gemeine ein Zeichen der Zusammenkunfft in Gottes hauß gegeben ist“ (Abb. unten).

Eigene Glocken zu haben, bedeutete aber auch festzulegen, wann und mit welchen der zwei Glocken geläutet werden sollte. Also wurde eine Läuteordnung für den Küster aufgestellt. Darin heißt es z.B., dass am Abend vor Sonn- und hohen Festtagen sowie morgens vor dem Gottesdienst und noch einmal am Nachmittag mit beiden Glocken zu läuten war. Bei Beerdigungen wurde jedoch auf dem Weg zum Grab nur mit der kleinen und nach der Beerdigung mit der großen Glocke geläutet (Abb. unten).

Auch die katholischen Feiertage wurden in der Läuteordnung der Reformierten bedacht: Am Abend vorher („vor den … Römischen feyertagen“, Abb. oben, Satz vor Pkt. 3) wurde mit der großen Glocke geläutet. Das war zu dieser Zeit aber nicht als freundliche Geste an die andere Konfession gedacht, sondern eine Art Warnung an die Angehörigen der eigenen Gemeinde, denn die katholischen Feiertage waren auch von den Reformierten, die sie nicht feierten, zu beachtet. An ihnen durfte z.B. nicht gearbeitet werden. Wer sich nicht daran hielt, musste mit empfindlichen Strafen rechnen, wenn er nicht mindestens eine Erlaubnis zur „Notarbeit“ (z.B. Saat- oder Erntearbeit wegen zu erwartender ungünstiger Wetterverhältnisse) vom katholischen Pfarrer vorweisen konnte.1
Die ursprünglichen Glocken von 1722 läuten allerdings schon lange nicht mehr, denn bereits 1859 zersprang die größere und wurde durch eine Gussstahlglocke ersetzt, die aber nach fünf Jahren an eine Missionsstation in Westafrika abgegeben wurde. Die daraufhin angeschafften neuen Glocken mit den Aufschriften „Ehre sei Gott in der Höhe“ und „Friede auf Erden“ blieben bis 1917 im Glockenstuhl. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg musste jeweils die größere Glocke als „Kanonenfutter“ geopfert werden. Ab 1925 und ab 1954 waren dann jeweils wieder zwei Glocken vorhanden.2

Lothar Weller, Stand 4.12.2022 – Titelfoto (2005): von mir.
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Über einen Streitfall dieser Art gibt es im Archiv St. Nikolaus einen Vorgang von 1734/35, der durch eine Eingabe der Reformierten Generalsynode an König Wilhelm I. („Soldatenkönig“) bis in höchste Kreise gelangte.
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