125 Jahre steht der Turm der romanischen Kirche Gruitens aus dem 12. Jahrhundert nun schon alleine oberhalb des Dorfes hinter der Kirchhofsmauer. Weil nach dem Bau der neuen katholischen Kirche (1877-79) kein Geld für den Erhalt der alten Kirche da war, wurde deren Kirchenschiff, das auf dem Titelfoto rechts vom Turm zu erkennen ist, 1895 abgerissen.1
Aber auch der erhalten gebliebene Turm war damals nicht gut in Schuss, wie man auf dem Titelbild besonders an dem Turmhelm erkennen kann, sodass sich auch die Zivilgemeinde wegen dessen Reparatur einschaltete.
Die Nachricht darüber verdanken wir folgender Eintragung ins Protokollbuch des Kirchenvorstands: Auch wohnte Herr Bürgermeister Kratz [der Sitzung vom 9.11.1894] bei, um im Auftrage der Behörde mit dem Kirchenvorstande über die Reparatur des Thurmes der alten Kirche zu verhandeln. Kirchenvorstand beschließt, die vom Provinzialausschuß offerirten M[ark] 800 zur Reparatur des Thurmes dankend zu acceptiren und dieselben zu dem genannten Zwecke, namentlich zur Renovirung des Daches zu verwenden… In welchem Umfang der Turm damals instand gesetzt worden ist, darüber hat 1898 der Provinzialkonservator Clemen ausführlich berichtet: Die Architekturteile des früheren Südportals des Kirchenschiffes wurden verwendet, um den nach dem Abriss des Kirchenschiffes an der Ostseite des Turms offenen ehemaligen Durchgang vom Turm ins Schiff (Langhaus) zu schließen. Lediglich die romanischen Säulen, die der Trachyt-Einfassung des Portals auf beiden Seiten vorgesetzt waren, konnten nicht übernommen werden; sie waren vollständig verwittert. Der Turmhelm wurde vollständig erneuert (Schalung, Schiefereindeckung) und ein neuer kupferner Hahn anstelle des verwitterten alten aus Eisenblech auf die Turmspitze gesetzt. Das äußere Turmmauerwerk wurde ausgebessert. Das Sakramentshäuschen (Tabernakel) aus der Kirche wurde in den Turm versetzt. Der ehemals offene Treppenaufgang aus der Kirche zu den oberen Geschossen des Turms wurde mit einer Bohlentür verschlossen.1
Das folgende Foto wird aufgenommen worden sein, als der Hahn auf die Turmspitze gesetzt wurde. Und das Gerüst zeigt, dass am Mauerwerk gearbeitet wurde.

1908 erfahren wir aus dem Protokollbuch: Der Kirchenvorstand nimmt Kenntniß von dem Schreiben des Herrn Bürgermeisters Kolk vom 18/3.08 […] betr[effend] die Instandsetzung des durch Blitzschlag beschädigten Thurmes der frühern Kath. Kirche. Die gewöhnlichen, kleineren Reparaturen an dem g[enannten] Thurme hat seither die Kirchengemeinde besorgt; auch sind die durch den Blitzschlag entstandenen Schäden am Dach seinerzeit auf ihre Kosten gründlich repariert worden. Zu außergewöhnlichen Anforderungen, wie sie jetzt für Instandsetzung im Allgemeinen u. namentlich des Mauerwerks wieder nothwendig sind, fehlen der Kirchengemeinde die Mittel durchaus; sie weiß kaum die Mittel für die Unterhaltung der neuen Kirche zu beschaffen. Die Instandsetzung des alten Thurmes kann ihr auch um so weniger zugemuthet werden, als sie für sich kein besonderes Interesse an der Erhaltung des Thurmes hat. Der Kirchenvorstand beschließt deshalb die Einwilligung zur Vornahme der erforderlichen Arbeiten zu ertheilen unter der Voraussetzung, daß die Mittel dazu vom Provinzial-Ausschuß bereitgestellt werden.
Das folgende Foto ist in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts aufgenommen worden, und darauf sieht der Turm ziemlich gut aus; große Schäden am Mauerwerk und an der Schieferdeckung des Turmhelms sind nicht zu erkennen.

Einen ganz anderen Eindruck vom Zustand des Turmes vermittelt das folgende Foto aus späterer Zeit:

2
. Foto (Ausschnitt): Archiv „Aule Mettmanner“/Repro: Archiv Kuth.Ende 1948 schrieb Prälat Marschall an die Amtsverwaltung Gruiten: Auf Ihre Anfrage vom 22. Sept. erwidere ich ergebenst, dass wir in Aussicht genommen haben, die Arbeiten am Kirchturm im nächsten Frühjahr zu beginnen. Vor der Währungsreform war kein Material da, und jetzt haben wir kein Geld zur Verfügung. Ich bitte deshalb die Amtsverwaltung, wie im früheren Stadium der Verhandlung mit der Kreisverwaltung zu überlegen, welche Mittel uns aus den amtlichen Fonds der Gemeinde, des Kreises und der Regierung unter dem Titel „Denkmalschutz“ zur Verfügung gestellt werden können. Ich will dann die damaligen Feststellungen bei der kirchenamtlichen Stelle auch erneuern. Aber die Geldbeschaffung zog sich offenbar in die Länge. 1951 schrieb die Gruitener Amtsverwaltung an die Kreisverwaltung: Der Turm auf dem kath. Friedhof in Gruiten befindet sich in einem sehr schlechten Zustand. Wenn nicht schnellstens eine gründliche Instandsetzung, vor allem des Helms, vorgenommen wird, ist über kurz oder lang mit einem totalen Verfall zu rechnen. Die kath. Kirchengemeinde als Besitzerin ist bereit, die Reparaturen durchzuführen, wenn eine entsprechende Beihilfe gegeben werden kann. Die Zivilgemeinde Gruiten ist leider z.Zt. nicht in der Lage, sich an den Instandsetzungskosten zu beteiligen. Aus dem Protokoll der Sitzung des Kirchenvorstands vom 22.9.1952 erfahren wir: Die Notwendigkeit der [Turm-]Reparatur ist schon seit 20 Jahren erkannt. Vor Beginn des Krieges wurde die Reparatur von den amtlichen Stellen genehmigt. Der Krieg machte die Ausführung unmöglich. Beim Ausgang des Krieges wurde der Turm durch Sprengung von einem Wagen Panzerfäuste noch stärker beschädigt. Im Jahre 1946 fand eine Besichtigung von den amtlichen Stellen statt und die Reparatur für notwendig gehalten. Der Turm wurde daraufhin eingerüstet. Das Gerüst wurde wieder entfernt, weil wegen Materialmangel das geplante Bauvorhaben nicht gemacht werden konnte. Der Kirchenvorstand beschließt auf Grund der vorerwähnten Bemühungen die Reparatur und bittet die Erzbischöfl. Behörde dafür Sorge zu tragen, daß die notwendigen Reparaturen vor dem Winter durchgeführt werden, weil durch die herabfallenden Steine die Friedhofsbesucher gefährdet werden.
1953 konnte man in der Zeitung lesen, dass an der oberen Hälfte des Turmhelmes von der Straßenseite aus schon ein mehr als einen Quadratmeter großes Loch zu sehen ist, das rasch wächst. Aber dann berichtete die Rheinische Post am 25.7.1953 über die endlich angelaufenen Arbeiten: Der ganze Turm bis zur Spitze ist mit einem Leitergerüst umgeben. […] Restlos verschwunden sind die alten Dachschiefer mit allem, was sich noch am Turmhelm befand. Sogar das Holzwerk zur Schieferbekleidung ist entfernt worden. Statt dessen hat man eine ganz neue Holzverkleidung um den Turm gelegt. Zweihundert Quadratmeter gutes Holz sind dort bereits angeschlagen. Auf ihm wird die Schieferverkleidung besten Halt finden. Die Verschieferung wird in altdeutscher Bauweise, wie vom Dombaumeister Weyres und der zuständigen Oberbaurätin der Regierung gefordert worden ist, ausgeführt. Im ganzen benötigt man vier Tonnen Schiefer. Er ist aus der bekannten Grube Katzenberg bei Mayen (Eifel) herangeschafft worden. […] Am Donnerstagabend wurde der Wetterhahn […] durch den Haaner Dachdeckermeister Brunsbach […] vom Turm geholt. Er trägt die Aufschrift „1897, Wilhelm Wippermann“. Seit jenem Jahr ist der Wetterhahn nicht mehr abmontiert worden. […] Interessant ist, daß der Turmhahn fünf Einschüsse aufweist, die offenbar von Infanteriekugeln aus der Kriegs- oder ersten Nachkriegszeit herrühren.
Ein Foto aus dieser Zeit zeigt, dass der Turmhelm (der eine Fläche von fast 200 qm hat!) schon neu verschiefert ist, während am Mauerwerk noch gearbeitet wird:

Die Gesamtkosten der Renovierung, die 1955 abgeschlossen wurde, betrugen knapp 25.000 D-Mark. Die Qualität der Arbeiten scheint gut gewesen zu sein, jedenfalls konstatierte das Dekanat Mettmann in einer „Feststellung des baulichen Zustandes der kirchlichen Gebäude“ zum Turm der alten Kirche im Dezember 1961: Nach vollkommener Restaurierung bestehen z.Zt. keine weiteren Instandsetzungswünsche.
Aber „der Zahn der Zeit“ nagte unaufhaltsam weiter an ihm. 2013-15 waren erneut umfassende Sanierungsmaßnahmen erforderlich, die von einer bürgerschaftlichen Initiative veranlasst, durchgeführt und in einem Buch dokumentiert wurden. Aus dem Buch eine kurze Passage, die sich auf die Zeit nach der Renovierung 1953-55 bezieht: Gleichwohl waren im Laufe der folgenden Jahrzehnte gravierende Schäden am Turmhelm (Schiefer und Dachstuhl), am Turmgemäuer (Undichtigkeiten im Mauerwerk, offene Fugen, Versanden des Natursteins, abgängiger Putz) sowie in der innenliegenden Kapelle mit dem Sakramentshaus aus dem 15. Jahrhundert entstanden. Sie gefährdeten die historisch wertvolle Substanz und machten eine baldige Sanierung unerlässlich.3

Lothar Weller, 18.2.2020, erweitert 1.3.2023 (Text zu Anm. 1) – Titelfoto (von vor 1895, Ausschnitt), im Vordergrund das Doktorshaus: Archiv Breidbach, Bild a03.
Link: Haaner Treff, 26.2.2020 * RPonline, 28.2.2020 *
1
Paul Clemen, Gruiten, Wiederherstellung des Turms der alten katholischen Pfarrkirche, in: Berichte über die Thätigkeit der Provinzialkommission für die Denkmalpflege in der Rheinprovinz und der Provinzialmuseen zu Bonn und Trier III, Bonn 1898, S. 26 ff.
2
Rheinische Post, 15.12.2014, Artikel Alte Strommasten werden ausgetauscht. „Die sind aus dem Jahr 1928“, wird darin der Projektleiter der RWE-Tochter „Westnetz“ zum Alter der zwischen Ohligs und Mettmann auszutauschenden Masten zitiert.
3
Norbert Julius, Die Sanierung. Von der Idee zum Engagement der Bürger in: 940 Jahre St. Nikolaus bei Gruiten. Festschrift zum Abschluss der archäologischen Untersuchungen und der Instandsetzung des Kirchturms im Jahre 2015, herausgegeben von Jürgen Brand, o.O. 2015, S. 9.
19. Februar 2020 at 10:30
Lieber Heimatfreund,
alles wieder mit regem Interesse gelesen.
Die Bilder allein sprechen schon für sich.
Sowohl Prälat Marschall als auch Dachdeckermeister Brunsbach habe ich gekannt.
Das waren Persönlichkeiten!
Freue mich nun schon auf den nächsten Beitrag.
Herzlich grüßt
H.B.
20. Februar 2020 at 12:54
Wieder eine tolle, umfangreiche Recherche, Lothar! Vielen Dank !!!
Liebe Güße Kalla
21. Februar 2020 at 10:07
Der alte Nikolausturm, einzigartig in seiner Schönheit. Dokument einer langen Geschichte. Wenn er aus seiner „Lebenszeit“ erzählen könnte …
Ein Dank an unsere Vorfahren, die seine Besonderheit erkannt und sich für seinen Erhalt eingesetzt haben.
Ein Dank an meine Zeitgenossen, die es geschafft haben, den Turm als Wahrzeichen in seiner ganzen Schönheit heute erstrahlen zu lassen.
Herzliche Grüße vom Niederrhein nach Gruiten!
K.J. Julius