Dass das von uns heute so genannte Haus am Quall eine alte Bauernburg mit einem massiven Wehr-/Fluchtturm (Steingaden) war, ist offenbar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts richtig erkannt worden. Soweit ich sehe, wird diese Eigenschaft erstmals in einem nach dem 2. Weltkrieg erschienen „Lesebogen für den Landkreis Düsseldorf-Mettmann“ erwähnt: Haus Quall war eine alte Bauernburg mit festem Turm und einem Wassergraben rundum. Der Turm mit den Schießscharten in seinen meterdicken Mauern steht heute noch. Leider ist er nicht mehr zu erkennen, denn man hat ein Fachwerkhaus um ihn errichtet.[1]
1967 schrieb dann Willi Münch in seinem Werk über die niederbergischen Steingaden und Wehrspeicher: Aus dem Raum Gruiten […] kennen wir den Steingaden des Hofes Quall. […] Wurde das Wasser des vorbeifließenden Düsselbachs gequallt [gestaut], dann verwandelte sich das Hausgrundstück in eine Insel. Der Autor bezieht sich dabei ausdrücklich auf eine frdl. Mitteilung von Herrn Breidbach, Gruiten[2] und ergänzt diese so: Diese wirksame Schutzvorrichtung erinnert an die umgräfteten niederrheinischen und westfälischen Wehrspeicher.
Fritz Breidbach selbst hat dann 1970 geschrieben: Vor dem Quall lag der kleine Teich. Wurde der Quall [Stauvorrichtung/Ablaufsperre] geschlossen, dann stieg das Wasser so hoch, daß die Wohnstätte am Quall ganz mit Wasser umgeben und in eine Wasserburg verwandelt wurde.[3]
1978 erschien eine Ortsbau- und siedlungsgeschichtliche Untersuchung Gruiten-Dorf. Dort ist zu lesen: Nach F. Breidbach soll der „Quall“ […] im gestauten Zustand ganz von Wasser umgeben gewesen sein. Hier findet sich aber ein bemerkenswerter Vorbehalt: Nach den heutigen Höhenlinien wäre ein See an der eingetragenen Stelle oder eine Lage weiter westlich natürlich nicht wahrscheinlich, da auch bei sehr niedrigem Wasserstand der Wehrturm des „Qualls“, dessen Fußboden heute schon einen halben Meter unter der Erdoberfläche liegt, im Wasser gestanden hätte.[4] Da der Qualler Wehrturm ja ggf. bewusst vom Wasser umgeben sein sollte, kann mit … der Wehrturm … im Wasser gestanden hätte wohl nur gemeint sein, dass das angestaute Wasser in den Turm geflossen wäre. Hinweise, auf welche Weise dies hätte geschehen oder vermieden werden können, finden sich in der Schrift nicht. Die Autoren gingen aber erkennbar davon aus, dass das vorgefundene Bodenniveau erst im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist und der angestaute Teich in früheren Zeiten deutlich tiefer gelegen haben muss, damit ein Wassereinbruch in den Wehrturm ausgeschlossen war.
1979 hat Ernst Breidbach eine andere Variante des Wasserschutzes für den Qualler Wehrturm beschrieben, bei der nicht der westliche kleine Teich, sondern der östliche große Teich die wesentliche Rolle spielt: Der Erbauer vom Quall hat sich auch das Düsselwasser [gemeint ist aber offenbar nicht das Wasser der Düssel, sondern das der Kleinen Düssel!] zunutze gemacht. Unterhalb vom katholischen Pfarrhaus war der ‚große Teich‘ […]. Unterhalb vom Quall war der ‚kleine Teich‘. […] Wurde am großen Teich das Schütt – früher Quall genannt – gezogen, stand die ganze Umgebung binnen weniger Minuten unter Wasser. […] Den Quall selbst konnte man nur über eine Zugbrücke erreichen. [5] Siehe dazu den folgenden Ausschnitt aus einer Rekonstruktion des Zustandes um 1675[6]:
1980 erschien zum Abschluss des Wiederaufbaus des Hauses am Quall unter Mitwirkung von Ernst Breidbach eine ausführliche Schrift, in der wieder die „ursprüngliche“ Version von Fritz Breidbach (1970) enthalten ist. Aus ihr wird darin geschlossen, dass die Tür an der Nordseite des Wehrturms erst eingebrochen worden sein kann, als das Gebäude nicht mehr vom Wasser umflossen wurde.[7]
1987 schrieb Harro Vollmar dann: Der Fluchtturm […] hatte die gleiche Funktion wie ein Berg- oder Burgfried […]. Nun lag das Haus am Quall früher am ‚kleinen See‘ inmitten des Dorfes Gruiten, der durch Aufstauen (‚quallen‘) der kleinen Düssel entstanden war. Unter diesen Umständen ähnelte der Quall eher einer Wasserburg als einem Bauernhof.[8]
Jürgen Brand hat 2002 die beiden Möglichkeiten, den Wehrturm durch Wasser zu schützen, so miteinander verbunden: In Gruiten wurde die Verteidigungsmöglichkeit des Steingadens durch geschickte Ausnutzung der topographischen Situation verstärkt. An der Einmündung der Kleinen Düssel in einem sumpfigen Überflutungsgebiet gelegen, konnte man als zusätzliche Abwehr das Wasser der benachbarten Düssel stauen.[9]
Gemeinsam ist allen Zitaten (ausgenommen Lohof[1]) nur, dass Wasser der in Gruiten vorhandenen Bäche dem Schutz des Wehrturms gedient haben soll. Bei der Methode dafür sind drei Versionen zu erkennen: 1. Wasser der Kleinen Düssel wird gestaut. 2. Wasser der Kleinen Düssel wird bei Gefahr aus dem großen Teich freigegeben, um den Wasserspiegel des kleinen Teichs zu erhöhen. 3. Wasser der Düssel und der Kleinen Düssel wird gestaut.
Ungelöst scheint, wie das Eindringen des gestauten Wassers in den Wehrturm vermieden werden konnte. Für die Tür an der Nordseite des Wehrturms wird deshalb in einem Fall vermutet, dass sie ursprünglich gar nicht vorhanden war, sondern erst ausgebrochen wurde, als der Wehrturm nicht mehr von Wasser umflossen war. In einem anderen Fall wird ein in früherer Zeit niedrigeres Bodenniveau um den Wehrturm herum angenommen, damit ein Eindringen des gestauten Wassers in den Turm ausgeschlossen werden kann. Aber eine schlüssige Erklärung, wie der Wasserschutz praktisch erfolgt sein könnte, fehlt offensichtlich. Deshalb hier der Versuch, eine solche zu geben:
Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass ein wirksamer Wasserschutz gegen Angreifer mit einer geringen Wasserhöhe auch bei größerer Ausdehnung (z.B. erhöhtes Anstauen des kleinen Teichs) nicht erreicht werden konnte, weil eine solche „Pfütze“ selbst bei schlammigem Untergrund zu durchwaten gewesen wäre. Außerdem unterstelle ich, dass die Stauvorrichtung (Quall) unbeweglich und massiv gewesen sein muss. Den Angreifern durfte ja kein „Stöpsel“ zur Verfügung stehen, den sie nur zu ziehen brauchten, um die „Wanne“ leerlaufen zu lassen. Drittens gehe ich davon aus, dass es zwei Konstanten gibt, die sich im Laufe der Jahrhunderte nicht oder nicht wesentlich verändert haben: 1. die Sohlen der beiden Bäche und 2. das Fundament des Wehrturms.
Die Fundamentoberkante des Wehrturms liegt gut einen Meter über der Sohle der Kleinen Düssel. Da diese in die Düssel fließt, muss die Sohle der Düssel am Zusammenfluß ein wenig niedriger liegen und im weiteren Verlauf weiter abfallen. Wäre also die Düssel nach dem Zusammenfluß mit der Kleinen Düssel gestaut worden, hätte es eines hohen Staudamms bedurft, um einen Rückstau in Richtung des Wehrturms zu erreichen, der als Wasserschutz für diesen wirklich wirksam gewesen wäre. Ich vermute deshalb, dass man einer einfacheren Lösung den Vorzug gegeben hat. Die Kleine Düssel floss früher nämlich – wie auch die Rekonstruktionszeichnung oben für 1675 zeigt – noch nicht in dem künstlich angelegten „Kanal“ neben der heutigen Pastor-Vömel-Straße, sondern direkt am Wehrturm vorbei[10]. Dadurch war für die Nordseite des Turms bereits der Ansatz für einen Wasserschutz vorhanden. Wahrscheinlich wurde der Wehrturm sogar aus diesem Grunde genau an dieser Stelle erbaut, denn bei einem westlich davon anzulegenden Quall brauchte man den natürlichen Bachlauf am Wehrturm nur zu verbreitern und zu vertiefen, um die Schutzfunktion zu erreichen. Wenn von dort dann ein entsprechend breiter und tiefer Graben auf der Ost- und Südseite des Wehrturms gegraben worden wäre, hätte zusammen mit dem kleinen Teich auf der Westseite (selbstverständlich in Turmnähe ebenfalls auf das Niveau des Grabens vertieft) ein Komplettschutz bestanden. Ein aus Sicherheitsgründen (s.o.) starrer, massiver Überlauf[11] aus dem gestauten Teich und Graben in die Düssel hätte dann nicht einmal über das Bodenniveau am Turm hinausreichen müssen. Der Wasserschutz wäre ja allein durch Breite und Tiefe des Wassergrabens bestimmt worden. Dieser Schutz wäre außerdem nicht nur temporär, sondern ständig vorhanden gewesen. Das frühzeitige Erkennen von drohender Gefahr, um den bei den anderen Varianten erforderlichen Stauvorgang noch rechtzeitig einleiten zu können, hätte kaum noch Bedeutung gehabt. Und wir müssten nicht mehr darüber nachdenken, um wie viel das Bodenniveau in früheren Jahrhunderten niedriger gewesen sein muss, damit eine ausreichende Stauhöhe erreicht werden konnte, ohne dass das Wasser in den Turm lief, denn der Wasserspiegel des umlaufenden Grabens hätte ja tiefer gelegen als das Bodenniveau. Die Tür auf der Nordseite des Turms hätte von Anfang an bestehen können; die Annahme, dass sie erst später eingebrochen worden sei, als der Turm nicht mehr vom Wasser umflossen war, wäre unnötig. Und Ernst Breidbach könnte mit seiner Zugbrücken-Version richtig liegen, denn ein Wassergraben um den Wehrturm erforderte ja geradezu einen Übergang, der bei Gefahr schnell beseitigt werden konnte. Bei dieser Version wäre auch der oben zitierte Vergleich mit den umgräfteten niederrheinischen und westfälischen Wehrspeichern wirklich zutreffend.
Ich habe die oben abgebildete Rekonstruktionszeichnung deshalb wie folgt modifiziert:
Fotos aus der Zeit des Wiederaufbaus des Hauses am Quall (1978/79), die erst seit kurzer Zeit bekannt sind, zeigen, dass die starken Mauern des Steingadens nicht tief ins Erdreich reichen, was bei einem im Laufe der Jahrhunderte angestiegenen Bodenniveau zu erwarten gewesen wäre. Auf dem Foto unten links ist das an der Ostseite des Turms freigelegte Fundament zu sehen. Beide Fotos zeigen, dass die Fundamentoberkante etwa mit dem heutigen Bodenniveau übereinstimmt (auf dem linken Foto ist rechts ein Teil des Nachbarhauses zu erkennen, auf dem rechten sieht man den Eintritt des Fallrohres ins Erdreich):
Trotzdem ist natürlich denkbar, dass das Bodenniveau um den Turm herum vor mehr als 500 Jahren niedriger war als heute. Dann hätte sich das Fundament des Wehrturms ursprünglich in einem kleinen, vielleicht künstlich aufgeschütteten Hügel befunden, sodass das gestaute Wasser nicht in den Turm fließen konnte. In diesem Fall könnten wir aber nicht mehr von einem kleinen Teich ausgehen, sondern müssten einen ziemlich großen unterstellen, denn dessen Grund hätte der Sohle der Kleinen Düssel entsprechen müssen, damit eine Wasserhöhe erreicht werden konnte, die wirklich Schutz bot. Die Folge wäre Dauerhochwasser in einem großen Teil des heutigen Dorfkerns (der damals allerdings fast unbebaut war) gewesen, und eine Zugbrücke als Zugang zum Wehrturm hätte es dann wohl nicht geben können.
Lothar Weller / 2018 (ergänzt am 27.9.2019 wegen eines neuen Zeitungsfundes um Anmerkung [11] und am 1.5.2020 um den Text, der zur neuen Anmerkung [1] gehört)
Fotos: Gruitener Archive (Archiv Breidbach, U4, 1982; Sammlg. Schuster, zwei aus 1978/79).
[1] Lohof, Ein Gang durch die Geschichte Gruitens, in: Lesebogen für den Landkreis Düsseldorf-Mettmann, Aloys Henn Verlag / Ratingen o.J., S. 3. Lohof nennt einen Wassergraben rundum, einen Stauvorgang erwähnt er nicht.
[2] Willi Münch, Niederbergische Steingaden und Wehrspeicher, Werken und Wohnen, Volkskundliche Untersuchungen im Rheinland, Band 6, Düsseldorf 1967, S. 20.
[3] Fritz Breidbach, Gruiten – Die Geschichte eines Dorfes an der Düssel, Gruiten 1970, S. 9 f.
[4] Stadt Haan (Hg.), Ortsbau- und siedlungsgeschichtliche Untersuchung Gruiten-Dorf von Dehnert/Tietze (Düsseldorf, Oktober 1978), Haan 1978, S. 5.
[5] Ernst Breidbach, 900 Jahre Vergangenheit, in: Bürger- und Verkehrsverein Gruiten e.V. (Hg.), Gruiten – Perle im Niederbergischen Land, Gruiten 1979, S. 12 f.
[6] Rekonstruktionsplan von Fritz Breidbach, komplett abgedruckt in: wie Anm. 4, S. 4.
[7] Stadt Haan/Zweckverband Erholungsgebiet Neandertal (Hg.), Das Haus am Quall, Haan 1980, S. 9 f., 15.
[8] Harro Vollmar, Geschichte von Haan und Gruiten, Teil 1: Anfänge bis 1500, Haan 1987 (Schriftenreihe der Abt. Haan des Bergischen Geschichtsvereins e.V., Band 5), S. 280 f.
[9] Jürgen Brand, Vom Spiecker zum Bürgerhaus – oder – Zwischen Genossenschaft und Zehnerblock, in: Festschrift zur Restaurierung des „Hauses Am Quall“ in Haan-Gruiten 2002, Haan 2002, S. 25.
[10] Dieser Verlauf ist noch 1829 durch eine alte Liegenschaftskarte nachgewiesen, hat also noch lange nach der Verlegung des Hauptflusses in den Kanal neben der Straße bestanden!
[11] Ein Presseartikel (wahrscheinlich Rheinische Post) vom 27.3.1974 (Überschrift: Pastoratsgarten neugestaltet) enthält folgende Passage: Im Zuge der Veränderungen ist auch die Bruchsteinmauer zwischen dem Kirchengelände und dem Quall abgebrochen worden. Sie war nicht mehr in gutem Zustand, so daß der Abbruch vertretbar war. Es handelt sich um den letzten Mauerrest, der Jahrhunderte vorher zur Stauung des Düsselwassers beigetragen hat, als das Gebiet am Quall unter Wasser gesetzt wurde, wenn man es wollte. Dieses Unterwassersetzen nannte man „quallen“. Die uralte Mauer war der letzte sichtbare Zeuge. Inzwischen hat man schon bedauert, daß von der letzten Quall-Mauer vor dem Abbruch kein Foto gemacht worden ist. —– Leider habe ich bisher auch kein Foto vom Gelände zwischen dem Haus am Quall und dem Kirchenensemble aus der Zeit vor 1974 gefunden, auf dem die Mauer erkennbar ist. Angaben über die Ausdehnung der Mauer und ihre Höhe über dem Bodenniveau sind ebenfalls bisher nicht bekannt. Es bleibt also (vorläufig?) unklar, ob diese Bruchsteinmauer meine These vom starren, massiven Überlauf stützt. Mit ziemlicher Sicherheit kann man aber nach der Lagebeschreibung im Artikel davon ausgehen, dass die Mauer nicht dazu diente, Wasser der Düssel zu stauen; auch hier wird wohl statt Düssel die Kleine Düssel gemeint sein.
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