In Publikationen über die Geschichte Gruitens1, wird allgemein davon ausgegangen, dass die Gegend um Gruiten bereits vor der ersten Jahrtausendwende besiedelt war. Die frühesten bekannten Urkunden, in denen Gruiten genannt wird, stammen aber erst aus der Zeit danach. Der älteste steinerne Zeitzeuge ist der Turm der romanischen Kirche St. Nikolaus Gruiten. Seine Erbauung und die Errichtung des zu ihm gehörenden Kirchenschiffs, das bis 1895 erhalten war, wurde 1874 auf das 12. Jahrhundert2, 20 Jahre später auf die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts datiert3. Spätere Veröffentlichungen nennen wieder ein etwa 100 Jahre geringeres Alter.4 Erst durch Gräber, die bei Erdarbeiten zur Vorbereitung einer Sanierung des Turmfundaments im Jahre 2013 freigelegt wurden, reicht der Blick nun konkret bis ins 1. Jahrtausend zurück.5
Überliefert ist, dass der Kirchhof mindestens seit Mitte des 15. Jahrhunderts auch Begräbnisplatz war (der noch heute Teil eines Friedhofs ist). Das älteste bekannte Dokument über die Lage der Gräber stammt aus dem Jahre 18076 und nennt einen Abstand von 22 Fuß (über 6 m) zur Kirche. Alle an der Nordseite des Turms gefundenen Gebeine lagen jedoch nicht mehr als etwa einen Meter von der Fundamentkante entfernt. Ein unvollständiges Kleinkindskelett lag sogar so nahe, dass Kopf, rechte Schulter und rechter Arm fehlten und diese Körperteile nach Lage und Ausrichtung der freigelegten Gebeine dort zu erwarten gewesen wären, wo sich seit vielen Jahrhunderten die Nordwestecke des Turmfundaments befindet. Das gab den Anstoß dafür zu klären, ob es sich um Bestattungen aus der Zeit vor der Erbauung des Turms handelt.
Radiocarbon-Untersuchungen haben die Vermutung bestätigt. Für das Skelett einer erwachsenen Person wurde als wahrscheinlicher Todeszeitraum 777 bis 986 n.Chr. ermittelt, für die Gebeine zweier Kleinkinder die Zeiträume 888 bis 1016 und 891 bis 1017 n.Chr. Außerdem wurden bei dem vom Turmfundament „abgeschnittenen“ Kinderskelett zwei einzelne Zähne gefunden. Die Altersbestimmung ergab 971 bis 1153 n.Chr.7 Für Teile eines Schädels, die im Grabungsbereich an der Nordostecke des Turms geborgen wurden8, ergab eine nachträglich in Auftrag gegebene Altersbestimmung 720 bis 993 n.Chr.9 Der Gesamtzeitraum aus den nun insgesamt fünf vorliegenden Altersbestimmungen umfasst die Zeit von 720 bis 1153 n.Chr. Zwei der fünf Altersbestimmungen ergaben Zeitstrecken, die komplett im 1. Jahrtausend liegen, zwei weitere überschreiten die Jahrtausendgrenze nur geringfügig. Lediglich die lose gefundenen Zähne sind etwas jünger.
Die drei Skelette und der Schädel lagen in gleicher Tiefe, die Skelette in gestreckter Rückenlage mit angelegten Armen in West-Ost-Ausrichtung mit Blick nach Osten und mit etwa gleicher Abweichung von der West-Ost-Ausrichtung der Kirche.10 Die Gräber enthielten keinerlei Beigaben. Hinweise auf eine Bestattung im Sarg wurden nicht gefunden, auch keine Textil-, Leder- oder Metallreste. Anzeichen, die gegen christliche Bestattungen sprechen, sind nicht vorhanden, aber ein Beweis für christliche Bestattungen fehlt ebenso. Jürgen Brand sieht in der West-Ost-Ausrichtung der Skelette und dem Fehlen von Grabbeigaben Umstände, die auf den unter christlichem Einfluss veränderten Bestattungsritus der fränkischen Siedler hin[weisen] und geht von offensichtlich christliche[n] Bestattungen aus11. Nach Sebastian Ristow (2006) gibt es aber nördlich der rechtsrheinischen Landschaften des Mittelrheins bis zu den Sachsenkriegen 772 und 804 und der Zwangsmissionierung unter Karl dem Großen keine Befunde, die eine Deutung als christlich zulassen.12 Zur Aussagefähigkeit von Gräbern über einen christlichen Hintergrund schreibt Ristow, dass weder Grabform noch Ausrichtung der Toten und ebensowenig das Fehlen von Beigaben sichere Erkenntnisse über den religiösen Hintergrund der Beigesetzten [ermöglichen]. […] Keinesfalls kann Beigabenlosigkeit pauschal und ohne weitere Indizien als Hinweis auf den christlichen Charakter von Gräbern angeführt werden. […] Gewisse Indizien kann lediglich die Anlage eines Grabes in klarem Bezug zu einem christlichen Gebäude liefern.13 Da die Altersbestimmungen der beiden ältesten Funde an das Ende der von Ristow genannten Zeit heranreichen, vielleicht sogar davor liegen, kommt der Frage, ob die romanische Kirche Gruitens eine Vorgängerin hatte, die bereits im 1. Jahrtausend bestanden hat, besondere Bedeutung zu. Mergen/Völz schließen aus den Altersbestimmungen der gefundenen Gebeine, dass die schon in der Vergangenheit diskutierte mögliche Existenz eines vorromanischen Kirchenbaus in Gruiten durch diese Resultate gestützt [wird].14
Brand schließt einen Vorgängerbau nicht aus, ist aber trotzdem sicher, dass die romanische Kirche 1075 in ein älteres Gräberfeld hinein gebaut worden [ist] und die Erbauer der Kirche nicht zum Kreis derjenigen gehört haben können, die hier ihre Angehörigen bestattet hatten, weil nicht angenommen werden könne, dass sie eine derartige Zerstückelung vorgenommen oder sie toleriert hätten.15 Dafür, dass die gefundenen Gebeine zu einem Gräberfeld gehören, das (auch) in das Areal hinein reicht, das später von der romanischen Kirche überbaut worden ist, gibt es bisher nur einen unsicheren Anhaltspunkt: das an der Nordwestecke des Turms gefundene unvollständige Skelett. Aufgrund des nur gut einen Meter breiten Grabungsbereichs um den alten Kirchturm herum, ist letzte Klarheit zwar nicht zu gewinnen, aber Anzeichen für ältere Bestattungen fanden sich sonst nur noch an der Westseite des Turms, etwas näher an den Turm heranreichend als die dort befindlichen Gräber des 20./21. Jahrhunderts, aber ohne Befund, dass sie vom Turm überbaut worden sind. Im Grabungsbereich an der Südseite des Turms sind gar keine Gräber gefunden worden, obwohl dieser Bereich hochwahrscheinlich durch eine spätere Überbauung lange Zeit vor Bodeneingriffen geschützt war.16 Brand zieht nicht in Betracht, dass das alte Gräberfeld nur nördlich eines eventuellen Vorgängerbaus der romanischen Kirche gelegen haben und die Totenruhe des an der Nordwestecke des Turms gefundenen Kinderskeletts beim Ausheben der Fundamentgrube unbeabsichtigt verletzt worden sein könnte. Für die unbeabsichtigte Verletzung der Totenruhe könnten aber zwei Gründe sprechen: Zunächst die Zeitspanne zwischen der Beerdigung des Kindes und dem Bau des Turms. Selbst vom äußersten Ende des für den Eintritt des Todes ermittelten Zeitraums (888-1016) bis zu dem von Brand angenommenen Kirchbauzeitpunkt (1075) umfasst sie schon rund 60 Jahre (2 Generationen), bei Annahme eines früheren Todeszeitpunkts etwa in der Mitte des ermittelten Zeitraums (um 950) würde sie bereits mehr als 100 Jahre betragen. Nimmt man hinzu, dass der Zeitpunkt der Kirchenerbauung keineswegs feststeht, sondern die Schätzungen dazu zwischen der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts und 1180 liegen17, könnte die Zeitspanne leicht noch 50 Jahre größer sein und fünf Generationen umfassen. Spätestens dann ist aber nicht auszuschließen, dass die genaue Lage des Grabes in der Erinnerung der Nachkommen zum Zeitpunkt des Turmbaus bereits verblasst war. Zweitens: Brand ist zwar zuzustimmen, dass die zum Zeitpunkt des Turmbaus lebenden Gruitener eine bewusste Zerstückelung ihrer Vorfahren nicht vorgenommen oder toleriert hätten. Wenn man aber der These der unbeabsichtigten Verletzung der Totenruhe nicht folgt, müsste stattdessen eine „feindliche Übernahme“ des Begräbnisplatzes durch eine Macht unterstellt werden, die den Gruitenern nicht wohlgesonnen war. Dass in einem solchen Fall die Gruitener ihre Toten weiterhin auf ihrem bisherigen Begräbnisplatz hätten bestatten wollen oder dürfen, ist unwahrscheinlich. Eher könnte man erwarten, dass die von dieser Zeit an verstorbenen Gruitener anderswo hätten begraben werden müssen. Von einer anderen Begräbnisstätte aus dem Mittelalter gibt es aber in Gruiten bisher keine Spur.
Eine neue Spur gibt es aber zur Frage, ob die romanische Kirche eine Vorgängerin gehabt habe. Die Urkatasterzeichnung von 1830/31 aus der Zeit, als die Kirche noch komplett vorhanden war, zeigt, dass die Kirche nicht zentriert im fast kreisrund ummauerten Kirchhof lag.
Mergen/Völz haben einen Laserscan des Geländes um den alten Turm veröffentlicht, in den der Grabungsbereich von 2013, der Grundriss des Turmes und der Grundriss des 1895 niedergelegten Kirchenschiffes nach einer Zeichnung von G.A. Fischer aus der Zeit um 1874, als die Kirche ebenfalls noch vollständig erhalten war18, lage- und maßstabsgerecht eingezeichnet sind.19 Dieser Laserscan zeigt einen geschlossenen, fast kreisrunden Verlauf der Kirchhofsmauer, die den Kirchhof einst umgab, also auch den inzwischen abgetragenen oder nur noch unter der Erde liegenden Teil des westlichen Halbkreises. Katasterzeichnung und Laserscan führen zum selben Ergebnis: Das Kirchenschiff ohne Turm hatte nach Westen und Osten etwa gleiche Abstände zur Mauer. Ein Vorgängerbau (profan oder sakral, z.B. eine Saalkirche/-kapelle ohne Turm) an der Stelle des Kirchenschiffs der romanischen Kirche hätte also deutlich zentrierter innerhalb der Mauer gestanden als die romanische Kirche mit Turm.20
Ob es einen Vorgängerbau gegeben hat, ist damit zwar nicht bewiesen, aber für die Siedlungsgeschichte ist von größerer Bedeutung, dass die gefundenen Gräber aus karolingisch-ottonischer Zeit kaum Raum für Zweifel an einer frühen „geordneten“ Totenbestattung in Gruiten lassen (über mehr als hundert Jahre in gleicher Ausrichtung und gleicher Tiefe). Die ermittelten Zeiträume für den Todeszeitpunkt sprechen klar gegen eine einmalige Bestattung aus besonderem Anlass. Dies und die Art der freigelegten Skelette (zwei kleine Kinder, eine erwachsene Person, wahrscheinlich eine Frau) lassen auch wenig Raum für die Annahme, dass es sich bei den Toten gar nicht um Gruitener, sondern um Fremde handeln könnte, die zufällig an diesem Ort gestorben sind und deshalb hier begraben wurden.
Lothar Weller / 2016 (Text, Foto, Grafik und Repro des Urkatasterausschnitts)
1 Harro Vollmar, Geschichte von Haan und Gruiten, Teil I: Anfänge bis 1500, Haan 1987 (Band 5 der Schriftenreihe der Abteilung Haan des Bergischen Geschichtsvereins e.V.), S. 252 ff. – Fritz Breidbach, Gruiten – Die Geschichte eines Dorfes an der Düssel, Gruiten 1970, S. 9. – Rudolf Vömel, Aus der Geschichte des Ortes und der reformierten Gemeinde Gruiten, o.O., o.J. [1924], S. 7 f.
2 Gerhard August Fischer (Handschrift, unveröffentlicht), Erläuterungsbericht zum Neubau einer katholischen Kirche in Gruiten, November 1874, Archiv der kath. Kirchengemeinde St. Nikolaus Gruiten, Akte 26: Die alte katholische Kirche in Gruiten ist ein romanisches Bauwerk, welches, wie aus der zugehörigen Zeichnung Blatt I. hervorgeht, im 12ten Jahrhundert erbaut sein mag, und äußerst geringe Dimensionen hat, während der Thurm ziemlich groß und stattlich ist. Fischer kann als guter Kenner der alten Gruitener Kirche gelten, weil er sich in den frühen 1870er Jahren intensiv mit der Frage beschäftigt hat, wie sie erweitert werden könnte. Für mindestens drei Varianten hat er Zeichnungen und Pläne erstellt, die 2013 im Archiv der kath. Kirchengemeinde St. Nikolaus Gruiten wiederentdeckt worden sind.
3 Paul Clemen, Die Kunstdenmäler der Rheinprovinz, Band 3/II, Die Kunstdenkmäler der Städte Barmen, Elberfeld, Remscheid und der Kreise Lennep, Mettmann, Solingen, Düsseldorf 1894, S. 236 (64).
4 Georg Dehio, bearb. v. Ruth Schmitz-Ehmke, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, NRW, 1. Bd., Rheinland, Darmstadt 1967: […] um 1180 errichtete Nikolauskirche […]. – Hans Erich Kubach/Albert Verbeek, Romanische Baukunst an Rhein und Maas, Katalog der vorromanischen und romanischen Denkmäler, Bd. 1 A-K, Berlin 1976, S. 337: […] Turm vom Ende des 12. Jhs. […]. Nach Aufnahme (im D.-A. Bonn) war es [das Langhaus] einschiffig gewölbt mit Chorhaus und Apsis, wohl ungefähr gleichzeitig mit dem Turm. 2. Hälfte des 12. Jhs., vielleicht mit älterem Kern im Schiff.
5 Die Arbeiten wurden vom LVR-Amt für Bodendenkmalpflege, Außenstelle Overath begleitet. Die archäologischen Arbeiten übernahm die Firma ABS Gesellschaft für Archäologische Baugrund-Sanierung mbH, Köln. Siehe dazu: Jost Mergen / Julia Völz, Untersuchungen am „Nikolausturm“ in Gruiten, in J. Kunow / M. Trier (Hg.), Archäologie im Rheinland 2013, Darmstadt 2014, S. 169-171 (im Internet hier verfügbar) sowie Jost Mergen / Julia Völz, Die archäologischen Untersuchungen am „Nikolausturm“ in Gruiten, in Jürgen Brand (Hg.), 940 Jahre St. Nikolaus bei Gruiten, Festschrift zum Abschluss der archäologischen Untersuchungen und der Instandsetzung des Kirchturms im Jahre 2015, o.O. 2015, S. 27-34.
6 Archiv der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Gruiten, Akte II B f: Gutachten Dr. med. J.W. Lauterbach vom 2.4.1807, zugehörige Zeichnung; Begräbnisordnung vom 6.10.1838, § 3.
7 AMS-Datierung der Universität Köln (CologneAMS, University of Cologne – Centre für Accelerator Mass Spectrometry), Probenergebnisse COL 2339 bis 2341 vom 19.3.2014 und COL 2902 vom 23.2.2015 (unveröffentlicht).
8 Das dazu gehörende Skelett wurde nicht freigelegt, weil es außerhalb des Grabungsbereichs an der Nordseite des ehemaligen Kirchenschiffs liegt.
9 AMS-Datierung der Universität Köln (wie Anm. 7), Probenergebnisse COL 3381 vom 28.10.2015 (unveröffentlicht).
10 Die Nordseite des Turms weicht von der exakten West-Ost-Ausrichtung um einige Grad ab (auf der Westseite nach Süden, auf der Ostseite nach Norden). Bei den freigelegten Skeletten war die Abweichung noch um einige Grad größer, bei dem vom Turmfundament „abgeschnitteten“ Kinderskelett am größten. Der Schädel des nicht freigelegten Skeletts (s. Anm. 8) lag ebenfalls mit Blick nach Osten.
11 Jürgen Brand, Die Kaufmannskirche St. Nikolaus bei Gruiten, in Jürgen Brand (Hg.) (wie Anm. 5), S. 46 und S. 48.
12 Sebastian Ristow, Frühes Christentum im Rheinland. Die Zeugnisse der archäologischen und historischen Quellen an Rhein, Maas und Mosel, Jahrbuch 2006 des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Münster 2007, S. 263 f.
13 Ristow (wie Anm. 12), S. 265.
14 Mergen/Völz (wie Anm. 5), S. 171 (2014) bzw. S. 34 (2015) mit der Erweiterung … Existenz eines vorromanischen, vermutlich hölzernen Kirchenbaus…
15 Brand (wie Anm. 11), S. 48 f., S. 86.
16 An der Turmsüdseite wurden zwei parallel nach Süden verlaufende Fundamentstreifen gefunden, die jünger sind als der Turm und höchstwahrscheinlich ein Beinhaus getragen haben, das von Mitte des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts urkundlich belegt ist.
17 Siehe Anm. 2-4.
18 Archiv der kath. Kirchengemeinde Gruiten, Plan für die Erweiterung der alten Kirche durch ein Querschiff mit daran neu angesetztem Chor und einer Apsis (einer der Pläne, die in Anm. 2 erwähnt sind).
19 Abgebildet in Mergen/Völz (wie Anm. 5), S. 169 (2014) bzw. S. 26 (2015). Mergen/Völz bestätigen, dass die vorgefundenen Baureste der alten Kirche dem Grundriss entsprechen: S. 170 (2014).
20 Die Kirchhofsmauer könnte deshalb älter sein als die romanische Kirche.
[Anmerkung: Der Aufsatz wurde abgedruckt in „Romerike Berge“ (Hg.: Bergischer Geschichtsverein e.V.), Heft 1/2017, S. 22 ff. (Es fehlt dort aber die Kennzeichnung der Zitate durch kursive Schrift.)]
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